Leipziger Volkszeitung vom 01. Juli 2006

„Es gibt schon Verwahrlosungserscheinungen“

Ex-Oberbürgermeister Lehmann-Grube plädiert für neue Schritte beim Kampf gegen Langzeitarbeitslosigkeit

Leipzigs Ex-Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube (SPD) gehört zu den Experten auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitik. Seit den 60er Jahren beschäftigt sich der Politiker mit diesem Thema – und sieht die aktuelle Stadtpolitik kritisch. LVZ-Redakteur Andreas Tappert sprach mit ihm.
Frage: Leipzigs Kosten für sozial Bedürftige explodieren, die Zahl der Langzeitarbeitslosen wächst ständig und die Stadt scheint kein Konzept dagegen zu haben. Trügt dieser Eindruck?
Hinrich Lehmann-Grube: Der Eindruck trügt nicht. Aber mir ist auch keine andere Stadt bekannt, die ein Konzept hat. Bundespolitisch ist nicht einmal ansatzweise ein Konzept vorhanden.
Aber die Situation ist doch dramatisch. Wenn sich nichts tut, wird Leipzigs Haushalt in absehbarer Zeit an den hohen Hilfen kollabieren.
Ja, deshalb ist meines Erachtens auch ein radikales Umdenken erforderlich.
Was meinen Sie?
Alle mir bekannten Ansätze zum gesamten Hartz-IV-Gesetz tun so, als könnten wir das Problem über den ersten, den regulären Arbeitsmarkt lösen. Alle Sachverständigen sind sich aber darüber einig, dass der erste Arbeitsmarkt das nicht leisten kann. Unter den 4,5 Millionen Arbeitslosen gibt es sicherlich – genau weiß das niemand – zwischen 500 000 und einer Million Menschen, die bei einem starken Anspringen der Konjunktur in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Aber – und davor verschließen viele die Augen – es gibt ungefähr 3,5 Millionen Menschen, die davon ausgeschlossen sind. Für mich fängt eine sinnvolle Diskussion bei dieser Erkenntnis an.
Sie beschäftigen sich schon seit Jahrzehnten mit dem Problem der Arbeitslosigkeit. Sie kennen auch Leipzig gut und haben Matthias von Hermanni einen Betrieb für Beschäftigungsförderung (bfb) aufbauen lassen. Braucht Leipzig jetzt wieder etwas Ähnliches?
Nein, Leipzig braucht keinen neuen Betrieb für Beschäftigungsförderung. Der bfb war im Grunde schon in den alten Förderzeiten nicht lebensfähig. Von Hermanni hat es mit sehr viel Geschick und Gespür verstanden, die Bundesleistungen für seinen Betrieb in Anspruch zu nehmen. Ich betone: in völlig legaler Weise. Aber in dem Maße wie die Bundesleistungen zurückgingen, war das Modell eigentlich nicht mehr aufrecht zu erhalten. Denn die Stadt allein war nicht in der Lage, das zu unterhalten. Aber das ist Geschichte, für die Zukunft ist das keine Lösung.
Was braucht Leipzig dann?
Leipzig braucht die Bereitschaft, neu zu denken. Das richtet sich an den Stadtrat, an den Oberbürgermeister, an alle, die mit dem Thema befasst sind. Das richtet sich auch an Industrie- und Handelskammer, an Handwerkskammer, an alle, die dort mitreden und Politik machen. Das bedeutet auch, einige Tabus zu durchbrechen, die im Moment wie eine Mauer vor neuen Lösungen stehen.
Woran denken Sie?
An das Tabu erster Arbeitsmarkt. Wir reden über Mindestlohn, über Kombilohn – alles Kategorien, die sich im ersten Arbeitsmarkt bewegen.
Worüber sollten wir reden?
Wir sollten darüber reden, wie man auf neue Art und Weise ein öffentlich organisiertes und öffentlich finanziertes Arbeitsfeld schafft. Ich vermeide bewusst den Begriff Arbeitsmarkt oder zweiter Arbeitsmarkt, weil das irreführend ist. Wenn Sie fragen, wohin diese Reise geht: Dafür habe ich kein Rezept, dass muss ausgedacht und entwickelt werden. Und das geht nur mit der Bereitschaft, die alten Wege zu verlassen.
Es heißt, Sie hätten darüber auch schon mit Oberbürgermeister Burkhard Jung gesprochen.
Ich habe ihm meine große Sorge mitgeteilt und ihm nahe gelegt, diesem Thema ganz besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Weil die zunehmende finanzielle Belastung der Stadt den Hals zuschnürt. Sie können drei Opernhäuser schließen und würden die hier wachsenden Ausgaben nicht wieder einholen.
Aber geredet wird doch schon lange genug.
Solche Lösungen müssen sorgfältig erarbeitet werden. Dem Bundessozialhilfegesetz, das 1960 in Kraft gesetzt wurde, ist eine jahrelange fachliche Diskussion vorausgegangen. Und dann hatte man in der Tat damals ein neues, revolutionäres und gutes Gesetz.
Handwerkskammer und IHK befürchten, dass ein öffentlich organisiertes und finanziertes Arbeitsfeld noch mehr reguläre Jobs verschwinden lässt.
Wir dürfen uns nicht Bange machen lassen und sagen: Um Himmelswillen, es darf dem ersten Arbeitsmarkt nichts passieren. Es passiert ihm auch nichts. Aber das Heer der Langzeitarbeitslosen, über das wir reden, ist auch das große Reservoir für Schwarzarbeit. Nur darüber redet keiner. Mein Ansatz ist, ein Auffangbecken zu schaffen für die immer größer werdende Zahl derjenigen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht untergebracht werden können.
Kann eine Stadt wie Leipzig so etwas lösen?
Natürlich müsste das auf Bundesebene gelöst werden. Aber wir haben ja nach der Wende unter völlig anderen Verhältnissen auch rund 8000 Menschen auf diese Weise Arbeit verschafft. In fast allen deutschen Großstädten und Landkreisen muss über dieses Problem nachgedacht werden. Deshalb würde ich jetzt damit anfangen. Ich weiß bloß nicht, ob es in Leipzig so einen Meinungsbildungsprozess gibt. Wo man überhaupt schon anfängt, darüber nachzudenken.
Wer müsste so einen Prozess anschieben?
Die Initiative zu dieser Meinungsbildung kann vom Oberbürgermeister ausgehen, vom zuständigen Beigeordneten, der derzeit noch fehlt. Sie kann auch von Bürgern ausgehen – aber wenn sie vom Stadtrat ausgeht, um so besser.
Also von Herrn von Hermanni.
Ich weiß, dass Herr von Hermanni für viele Leute ein rotes oder ein schwarzes Tuch ist. Ich weiß auch, dass seine Methoden in gewisser Weise problematisch sind – aber ich kenne keinen, der auf diesem Gebiet so klug ist und so unkonventionell nachdenkt wie er. In einem solchen Prozess würde ich unbedingt versuchen, Herrn von Hermanni mit einzubeziehen.
Was würde passieren, wenn die Stadt weiter die Hände in den Schoß legt?
Wenn wir Glück haben, zieht die Konjunktur kräftig an, die Zahl der Arbeitslosen sinkt geringfügig und die Einnahmen steigen. Auf diese Art und Weise würde es vielleicht noch einige Jahre möglich sein, die tendenziell wachsenden Ausgaben für die Langzeitarbeitslosigkeit zu decken. Aber das ist alles Spekulation.
Und wenn wir Pech haben ...
... dann steigt die Zahl der Langzeitarbeitslosen weiter an. Solange, bis Stadtrat und Oberbürgermeister von Konsolidierungsprogramm zu Konsolidierungsprogramm taumeln. Auch die sozialen Begleiterscheinungen werden unangenehmer.
Woran denken Sie?
Die Langzeitarbeitslosigkeit hat katastrophale soziale Auswirkungen. Ein zunehmender Anteil der Betroffenen wird aus sozialen Zusammenhängen ausgegrenzt. Es entwickelt sich eine sozial benachteiligte Schicht, in der es schon Verwahrlosungserscheinungen gibt.
Der Stadtrat scheut sich vor neuen Initiativen zur Beschäftigungsförderung, weil er Angst davor hat, dass sich das bfb-Debakel wiederholt. Damals soll die Abwicklung des Unternehmens der Stadt 60 Millionen Euro gekostet haben.
Die zur Abwicklung des bfb verbreiteten Zahlen sind falsch. Auch um das Ende des bfb sind viele Legenden gestrickt worden. Aber sich damit zu beschäftigen, führt absolut nicht weiter.
Auch nicht, wenn die Angst vor einer neuen Pleite notwendige Schritte verhindert?
Ich weiß nicht, ob es im Stadtrat eine bfb-Angst gibt. Ich kann verstehen, dass man Tabus nicht gerne durchbricht und neues Denken ist allemal gefährlich. Aber der Stadtrat kann die Diskussion um das Problem der Langzeitarbeitslosen ohnehin nur anstoßen und den Prozess der Meinungsbildung nicht selbst betreiben. Der Stadtrat ist in dieser Frage nicht sachkompetent. Er ist entscheidungskompetent, das ist etwas anderes.
Wer sollte jetzt handeln?
Der Stadtrat könnte den Prozess anstoßen und mit dazu beitragen, dass wir ohne bfb-Angst vorurteilsfrei untersuchen, was die Stadt machen kann. Auch der Oberbürgermeister kann sich erkundigen, was in anderen Städten läuft. Aber die Frage, wie Sachverstand in Politik eingebunden werden kann, ist immer sehr schwierig. Das darf man nicht so naiv angehen und sagen: Da bilden wir mal einen Sonderausschuss im Stadtrat und der klärt das schon. So geht es nicht, das reicht nicht. Ich kann mich erinnern, dass wir damals in den Anfangsjahren des bfb mit Sachverständigen aus der Verwaltung und mit anderen stundenlang darüber diskutiert haben, wie wir das organisieren. Wir haben damals sehr lange darüber diskutiert und Lösungen gefunden, wie die Werte, die der bfb geschaffen hat, objektiv gemessen werden können. Das hat nachher in der Diskussion bei der Abwicklung überhaupt keine Rolle mehr gespielt.
Was halten Sie davon, den Niedergang des bfb richtig aufzuarbeiten?
Nichts.
Warum nichts?
Es gibt keine Instanz – ausgenommen drei oder vier Personen – die wirklich an einer solchen Aufarbeitung interessiert wären und ich finde, die geistigen Kräfte können besser verwandt werden.
Aber wenn Unrecht geschehen ist?
Mir persönlich ist kein Unrecht geschehen. Man hat mir Vorwürfe gemacht und ich habe schriftlich dazu Stellung genommen. Das ist vorhanden – wen es interessiert, der kann es lesen. Diejenigen, die wirklich Unrecht erfahren haben – voran Matthias von Hermanni – denen ist letzten Endes mit nicht zu überbietender Deutlichkeit im Urteil des Bundesgerichtshofes geholfen worden. Darin werden sowohl der Staatsanwaltschaft als auch den Vorinstanzen der Gerichte einige saftige Ohrfeigen verpasst. Was geschehen kann, ist meines Erachtens mit den Gerichtsurteilen geschehen. Ich sehe keinen Sinn darin, intellektuellen oder sonstigen Aufwand zu betreiben, um dieses Ding aufzuarbeiten.