„Es gibt schon Verwahrlosungserscheinungen“
Ex-Oberbürgermeister Lehmann-Grube plädiert für neue
Schritte beim Kampf gegen Langzeitarbeitslosigkeit
Leipzigs Ex-Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube (SPD) gehört zu
den Experten auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitik. Seit den 60er
Jahren beschäftigt sich der Politiker mit diesem Thema – und sieht die
aktuelle Stadtpolitik kritisch. LVZ-Redakteur Andreas Tappert
sprach mit ihm.
Frage: Leipzigs Kosten für sozial Bedürftige explodieren, die
Zahl der Langzeitarbeitslosen wächst ständig und die Stadt scheint kein
Konzept dagegen zu haben. Trügt dieser Eindruck?
Hinrich Lehmann-Grube: Der Eindruck trügt nicht. Aber mir ist
auch keine andere Stadt bekannt, die ein Konzept hat. Bundespolitisch
ist nicht einmal ansatzweise ein Konzept vorhanden.
Aber die Situation ist doch dramatisch. Wenn sich nichts tut, wird
Leipzigs Haushalt in absehbarer Zeit an den hohen Hilfen kollabieren.
Ja, deshalb ist meines Erachtens auch ein radikales Umdenken
erforderlich.
Was meinen Sie?
Alle mir bekannten Ansätze zum gesamten Hartz-IV-Gesetz tun so, als
könnten wir das Problem über den ersten, den regulären Arbeitsmarkt
lösen. Alle Sachverständigen sind sich aber darüber einig, dass der
erste Arbeitsmarkt das nicht leisten kann. Unter den 4,5 Millionen
Arbeitslosen gibt es sicherlich – genau weiß das niemand – zwischen 500
000 und einer Million Menschen, die bei einem starken Anspringen der
Konjunktur in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Aber –
und davor verschließen viele die Augen – es gibt ungefähr 3,5 Millionen
Menschen, die davon ausgeschlossen sind. Für mich fängt eine sinnvolle
Diskussion bei dieser Erkenntnis an.
Sie beschäftigen sich schon seit Jahrzehnten mit dem Problem der
Arbeitslosigkeit. Sie kennen auch Leipzig gut und haben Matthias von
Hermanni einen Betrieb für Beschäftigungsförderung (bfb) aufbauen
lassen. Braucht Leipzig jetzt wieder etwas Ähnliches?
Nein, Leipzig braucht keinen neuen Betrieb für
Beschäftigungsförderung. Der bfb war im Grunde schon in den alten
Förderzeiten nicht lebensfähig. Von Hermanni hat es mit sehr viel
Geschick und Gespür verstanden, die Bundesleistungen für seinen Betrieb
in Anspruch zu nehmen. Ich betone: in völlig legaler Weise. Aber in dem
Maße wie die Bundesleistungen zurückgingen, war das Modell eigentlich
nicht mehr aufrecht zu erhalten. Denn die Stadt allein war nicht in der
Lage, das zu unterhalten. Aber das ist Geschichte, für die Zukunft ist
das keine Lösung.
Was braucht Leipzig dann?
Leipzig braucht die Bereitschaft, neu zu denken. Das richtet sich an
den Stadtrat, an den Oberbürgermeister, an alle, die mit dem Thema
befasst sind. Das richtet sich auch an Industrie- und Handelskammer, an
Handwerkskammer, an alle, die dort mitreden und Politik machen. Das
bedeutet auch, einige Tabus zu durchbrechen, die im Moment wie eine
Mauer vor neuen Lösungen stehen.
Woran denken Sie?
An das Tabu erster Arbeitsmarkt. Wir reden über Mindestlohn, über
Kombilohn – alles Kategorien, die sich im ersten Arbeitsmarkt bewegen.
Worüber sollten wir reden?
Wir sollten darüber reden, wie man auf neue Art und Weise ein
öffentlich organisiertes und öffentlich finanziertes Arbeitsfeld
schafft. Ich vermeide bewusst den Begriff Arbeitsmarkt oder zweiter
Arbeitsmarkt, weil das irreführend ist. Wenn Sie fragen, wohin diese
Reise geht: Dafür habe ich kein Rezept, dass muss ausgedacht und
entwickelt werden. Und das geht nur mit der Bereitschaft, die alten Wege
zu verlassen.
Es heißt, Sie hätten darüber auch schon mit Oberbürgermeister
Burkhard Jung gesprochen.
Ich habe ihm meine große Sorge mitgeteilt und ihm nahe gelegt,
diesem Thema ganz besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Weil die
zunehmende finanzielle Belastung der Stadt den Hals zuschnürt. Sie
können drei Opernhäuser schließen und würden die hier wachsenden
Ausgaben nicht wieder einholen.
Aber geredet wird doch schon lange genug.
Solche Lösungen müssen sorgfältig erarbeitet werden. Dem
Bundessozialhilfegesetz, das 1960 in Kraft gesetzt wurde, ist eine
jahrelange fachliche Diskussion vorausgegangen. Und dann hatte man in
der Tat damals ein neues, revolutionäres und gutes Gesetz.
Handwerkskammer und IHK befürchten, dass ein öffentlich organisiertes
und finanziertes Arbeitsfeld noch mehr reguläre Jobs verschwinden lässt.
Wir dürfen uns nicht Bange machen lassen und sagen: Um
Himmelswillen, es darf dem ersten Arbeitsmarkt nichts passieren. Es
passiert ihm auch nichts. Aber das Heer der Langzeitarbeitslosen, über
das wir reden, ist auch das große Reservoir für Schwarzarbeit. Nur
darüber redet keiner. Mein Ansatz ist, ein Auffangbecken zu schaffen für
die immer größer werdende Zahl derjenigen, die auf dem ersten
Arbeitsmarkt nicht untergebracht werden können.
Kann eine Stadt wie Leipzig so etwas lösen?
Natürlich müsste das auf Bundesebene gelöst werden. Aber wir haben
ja nach der Wende unter völlig anderen Verhältnissen auch rund 8000
Menschen auf diese Weise Arbeit verschafft. In fast allen deutschen
Großstädten und Landkreisen muss über dieses Problem nachgedacht werden.
Deshalb würde ich jetzt damit anfangen. Ich weiß bloß nicht, ob es in
Leipzig so einen Meinungsbildungsprozess gibt. Wo man überhaupt schon
anfängt, darüber nachzudenken.
Wer müsste so einen Prozess anschieben?
Die Initiative zu dieser Meinungsbildung kann vom Oberbürgermeister
ausgehen, vom zuständigen Beigeordneten, der derzeit noch fehlt. Sie
kann auch von Bürgern ausgehen – aber wenn sie vom Stadtrat ausgeht, um
so besser.
Also von Herrn von Hermanni.
Ich weiß, dass Herr von Hermanni für viele Leute ein rotes oder ein
schwarzes Tuch ist. Ich weiß auch, dass seine Methoden in gewisser Weise
problematisch sind – aber ich kenne keinen, der auf diesem Gebiet so
klug ist und so unkonventionell nachdenkt wie er. In einem solchen
Prozess würde ich unbedingt versuchen, Herrn von Hermanni mit
einzubeziehen.
Was würde passieren, wenn die Stadt weiter die Hände in den Schoß
legt?
Wenn wir Glück haben, zieht die Konjunktur kräftig an, die Zahl der
Arbeitslosen sinkt geringfügig und die Einnahmen steigen. Auf diese Art
und Weise würde es vielleicht noch einige Jahre möglich sein, die
tendenziell wachsenden Ausgaben für die Langzeitarbeitslosigkeit zu
decken. Aber das ist alles Spekulation.
Und wenn wir Pech haben ...
... dann steigt die Zahl der Langzeitarbeitslosen weiter an.
Solange, bis Stadtrat und Oberbürgermeister von Konsolidierungsprogramm
zu Konsolidierungsprogramm taumeln. Auch die sozialen
Begleiterscheinungen werden unangenehmer.
Woran denken Sie?
Die Langzeitarbeitslosigkeit hat katastrophale soziale Auswirkungen.
Ein zunehmender Anteil der Betroffenen wird aus sozialen Zusammenhängen
ausgegrenzt. Es entwickelt sich eine sozial benachteiligte Schicht, in
der es schon Verwahrlosungserscheinungen gibt.
Der Stadtrat scheut sich vor neuen Initiativen zur
Beschäftigungsförderung, weil er Angst davor hat, dass sich das
bfb-Debakel wiederholt. Damals soll die Abwicklung des Unternehmens der
Stadt 60 Millionen Euro gekostet haben.
Die zur Abwicklung des bfb verbreiteten Zahlen sind falsch. Auch um
das Ende des bfb sind viele Legenden gestrickt worden. Aber sich damit
zu beschäftigen, führt absolut nicht weiter.
Auch nicht, wenn die Angst vor einer neuen Pleite notwendige Schritte
verhindert?
Ich weiß nicht, ob es im Stadtrat eine bfb-Angst gibt. Ich kann
verstehen, dass man Tabus nicht gerne durchbricht und neues Denken ist
allemal gefährlich. Aber der Stadtrat kann die Diskussion um das Problem
der Langzeitarbeitslosen ohnehin nur anstoßen und den Prozess der
Meinungsbildung nicht selbst betreiben. Der Stadtrat ist in dieser Frage
nicht sachkompetent. Er ist entscheidungskompetent, das ist etwas
anderes.
Wer sollte jetzt handeln?
Der Stadtrat könnte den Prozess anstoßen und mit dazu beitragen,
dass wir ohne bfb-Angst vorurteilsfrei untersuchen, was die Stadt machen
kann. Auch der Oberbürgermeister kann sich erkundigen, was in anderen
Städten läuft. Aber die Frage, wie Sachverstand in Politik eingebunden
werden kann, ist immer sehr schwierig. Das darf man nicht so naiv
angehen und sagen: Da bilden wir mal einen Sonderausschuss im Stadtrat
und der klärt das schon. So geht es nicht, das reicht nicht. Ich kann
mich erinnern, dass wir damals in den Anfangsjahren des bfb mit
Sachverständigen aus der Verwaltung und mit anderen stundenlang darüber
diskutiert haben, wie wir das organisieren. Wir haben damals sehr lange
darüber diskutiert und Lösungen gefunden, wie die Werte, die der bfb
geschaffen hat, objektiv gemessen werden können. Das hat nachher in der
Diskussion bei der Abwicklung überhaupt keine Rolle mehr gespielt.
Was halten Sie davon, den Niedergang des bfb richtig aufzuarbeiten?
Nichts.
Warum nichts?
Es gibt keine Instanz – ausgenommen drei oder vier Personen – die
wirklich an einer solchen Aufarbeitung interessiert wären und ich finde,
die geistigen Kräfte können besser verwandt werden.
Aber wenn Unrecht geschehen ist?
Mir persönlich ist kein Unrecht geschehen. Man hat mir Vorwürfe
gemacht und ich habe schriftlich dazu Stellung genommen. Das ist
vorhanden – wen es interessiert, der kann es lesen. Diejenigen, die
wirklich Unrecht erfahren haben – voran Matthias von Hermanni – denen
ist letzten Endes mit nicht zu überbietender Deutlichkeit im Urteil des
Bundesgerichtshofes geholfen worden. Darin werden sowohl der
Staatsanwaltschaft als auch den Vorinstanzen der Gerichte einige saftige
Ohrfeigen verpasst. Was geschehen kann, ist meines Erachtens mit den
Gerichtsurteilen geschehen. Ich sehe keinen Sinn darin, intellektuellen
oder sonstigen Aufwand zu betreiben, um dieses Ding aufzuarbeiten.