„Heute würde nicht Hartz IV regieren“
Disziplinarverfahren gegen Matthias von Hermanni eingestellt / 53-Jähriger erwägt Klage
Das Disziplinarverfahren gegen Matthias von Hermanni ist nach acht Jahren ohne Ergebnis eingestellt worden. Dies sagte Verwaltungsbürgermeister Andreas Müller (SPD) der LVZ. Nachdem bereits die Gerichte den früheren Chef des Betriebes für Beschäftigungsförderung (bfb) freigesprochen hatten, sei auch im Disziplinarrecht kein anderes Ergebnis zu erwarten gewesen. Wir sprachen mit dem nun wieder vollständig rehabilitierten Spitzenbeamten.
Frage: Die Stadt Leipzig hat mitgeteilt, dass das seit November 1999 gegen Sie laufende Disziplinarverfahren eingestellt wurde. Glückwunsch!
Matthias von Hermanni: Danke, das geschah schon vor einiger Zeit. Es hat mich sehr gefreut und ich habe gegenüber den Beteiligten erklärt, dass sie sich nicht nur sehr korrekt, sondern auch sehr fair verhalten haben.
Der Leipziger Stadtrat hatte aber doch vor Jahren einstimmig beschlossen, Sie rauszuschmeißen?
Mit den Beteiligten meine ich die Oberbürgermeister der vergangenen Jahre: Tiefensee, Müller und Jung. Dem Stadtrat kann ich doch nur wenig Vorwürfe machen, da die Stadträte die 2003 Beschlüsse fassten, nicht annähernd im Film waren und viele auch bis heute nicht wissen, was bis 1999 lief. Welchen Sachstand wir mit dem Betrieb für Beschäftigungsförderung erreicht hatten und was beabsichtigt war.
Was soll das heißen, der Stadtrat sei nicht im Film gewesen?
Die Stadt Leipzig war im Jahre 1996 mit dem bfb die erste und einzige Großstadt in Deutschland, die nach 1945 jedem arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger sofort geeignete öffentliche Arbeit anbieten konnte. Darauf machte nach Gesprächen mit den Ministern Blüm und Schäuble 1997 sogar der damalige Bundeskanzler Kohl in seiner Haushaltsrede aufmerksam. Dies führte nicht nur zu einem enormen Mediendruck, sondern auch zu der Überlegung, mit dem bfb und dem Arbeitsamt Leipzig ein deutschlandweit einmaliges Modellprojekt zu starten. Es sollten neben den Hilfeempfängern der Stadt auch die Langzeitarbeitslosen des Arbeitsamtes mit einbezogen werden. Man hätte also nicht mehr eine Alimentation fürs Nichtstun – wie heute, vielmehr Leistung gegen öffentliche Arbeit gesetzt. Populistisch formuliert: Heute würde in der Stadt nicht Hartz IV regieren, sondern Leipzig I.
Überlegungen gibt es viele. Wie weit waren denn die Vorbereitungen, wer war informiert?
Herr Dr. Meyer vom Leipziger Arbeitsamt, Herr Germann vom Landesarbeitsamt und ich waren zunächst in Nürnberg. Am 17. Dezember 1998 wurde Ministerpräsident Biedenkopf mit eingebunden, der es mit dem damals gerade neu gewählten Bundeskanzler Schröder bei dessen Antrittsbesuch in Dresden am 18. Dezember 1998 erörtern wollte. Anschließend ist dann mit dem zuständigen Staatssekretär des Bundesarbeitsministeriums Tegtmeyer vor Ort in Leipzig die Sach- und Rechtslage bis hin zu den notwendigen Infrastrukturmaßnahmen und ihren Kosten besprochen worden. Im Bundeshaushalt wurde unter dem Titel Innovativer Arbeitsmarkt der notwendige finanzielle Spielraum geschaffen. Wir gingen damals von zirka 20 000 notwendigen Beschäftigungsverhältnissen im Hauptamt Leipzig aus, davon 6000 bis 8000 bei freien Trägern sowie 12 000 bei der Stadt und dem bfb.
Gab es Widerstände?
Natürlich, einige regionale Größen schäumten. Sachsens Wirtschaftsminister Schommer zum Beispiel passte die ganze Richtung nicht.
Für Leipzig wäre das doch eine riesige Chance gewesen. Wieso wurde die Umsetzung gestoppt?
Weil ich verhaftet wurde.
Die Probleme mit der Arbeitslosigkeit sind heute noch größer, keine Lösung in Sicht. Wäre denn eine Wiedergeburt dieses Modells denkbar?
Theoretisch ja, praktisch nein. Das hierfür notwendige Anlagevermögen ist nicht mehr vorhanden. Allein die personelle Infrastruktur bedürfte einer mehrjährigen Vorbereitung. Dafür will heute keiner das Geld in die Hand nehmen. Darüber hinaus setzt dies zunächst auch einen anderen Horizont in unserer politischen Diskussion voraus.
Was meinen Sie damit?
Wir haben heute die Wirtschaftsordnung über die Gesellschaftsordnung gestellt. Die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit begegnen sich nicht mehr auf Augenhöhe. Der Globalisierungsprozess rast voran und die großen politischen Parteien sind völlig hilflos bei der Neudefinition einer sozialen Marktwirtschaft in der globalisierten Weltwirtschaftsordnung. Die Gesellschaft wird auseinander gesprengt. Gruppeninteressen obsiegen. Die betroffenen Menschen verlieren das Vertrauen in den Staat, denn dieser ist offensichtlich nicht mehr in der Lage, das zu leisten, was zunächst Aufgabe des Staates ist. Der Staat muss Ordnung, Sicherheit und Vertrauen in seinen gesamtgesellschaftlichen Systemen gewährleisten. Nehmen sie nur die Beispiele Rente, Gesundheit, Steuern oder Arbeitsmarkt. Keines der Systeme ist zukunftssicher, jeder weiß es und die Politik schwätzt seit Jahren – ohne eine glaubwürdige Antwort zu geben. Geschweige denn zu handeln. Sie treibt je nach Ereignis immer nur eine neue Sau durchs Dorf. Aktuell heißen die Nokia, Bankenkrise, Siemens oder Zumwinkel.
Das klingt nach einer Grundsatzkritik am System der Bundesrepublik?
Nein, im Gegenteil. Ich halte die Verfassung mit ihrer freiheitlichen Ordnung und die Ziele einer sozialen Marktwirtschaft für hervorragend. Aber die politischen Parteien sind gegenwärtig unfähig, die Gesellschaft zusammenzuführen, sie reißen sie mit ihren ständigen nur noch aus Reflexen bestehenden Äußerungen auseinander. Im Bereich des Arbeitsmarktes zum Beispiel ist doch der Gedanke des Förderns und Forderns richtig. Die Politik muss ihn nur glaubwürdig und für die Menschen nachvollziehbar umsetzen. Volkswirtschaftlich betrachtet müssen wir öffentliche Arbeit hinzufügen – und damit Arbeitnehmer geordnet vom Markt nehmen.
Was heißt das konkret?
Stellen Sie sich mal eine 40-jährige alleinerziehende Mutter mit zwei noch minderjährigen Schulkindern vor. Eine Frau, die etwas bildungsfern ist, soziale Probleme, auch Probleme bei der Erziehung ihrer Kinder hat. Sie verlangen nun als Staat von dieser Frau, dass sie kontinuierlich ihre Arbeitskraft einem öffentlichen Arbeitsmarkt mehrwertschaffend zur Verfügung stellt. Gleichzeitig bieten sie der Frau Bildungsanteile und soziale Hilfestellungen an. Was sagen nun unsere wesentlichen politischen Gruppen dazu? Ich überzeichne, aber leider nur ein bisschen: Die Rechten sagen: Das ist eine Sozialstation. Die Linken sagen: Das ist ein Arbeitslager. Die Gewerkschaften fordern öffentlichen Tariflohn und die Funktionäre der Wirtschaft erklären, die Frau nimmt uns den Auftrag weg. Im Ergebnis sitzt die Frau öffentlich alimentiert fürs Nichtstun zu Hause, hat keine Tagesstrukturierung, schafft keinen Mehrwert, findet keine Anerkennung. Auch nicht vor ihren Kindern mit all den daraus entstehenden Folgen. Sie arbeitet ein bisschen schwarz und wird dann auch noch irgendwann mit dem Satz diskreditiert: Na, sitzt wohl auf Hartz IV und der Tag gehört Dir.
Wie geht’s mit dieser Frau weiter?
Gegenwärtig gar nicht. Wenn es schlecht läuft, hat sie irgendwann noch ein Alkoholproblem dazu.
Das alles ließe sich ändern, wenn Sie ihren bfb wieder aufbauen?
Es geht doch nicht um die Organisationsform, es geht um das gesellschaftliche Bild. Mit was für Strukturen das Ziel erreicht wird, ob mit Vereinen, Stiftungen, Firmen oder Betrieben, ist völlig egal. Wichtig sind die inhaltlichen Ziele. Dabei müssen wir nicht mal ein einziges Gesetz verändern. Seit über fünfzig Jahren steht im Gesetz, dass der Hilfeempfänger seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen hat. Nur so können wir ihn wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben lassen. Aber was tun wir? Nichts!
Das Disziplinarverfahren ist erledigt. Wie geht es nun mit Ihnen persönlich weiter?
Weiß ich gegenwärtig nicht. Ich muss mich in den nächsten Wochen entscheiden, ob ich mich der Zukunft zuwende oder weiterhin in der Vergangenheit unterwegs bin und das Land Sachsen auf Schadenersatz verklage.
Um welche Summen geht es da?
Der eingetretene Vermögensschaden liegt bei mehreren hunderttausend Euro. Dabei ist die juristische Situation für Außenstehende kaum vermittelbar. Gegenwärtig hat sich das Land Sachsen als juristische Person noch mit 60 000 Euro an dem Prozess gegen mich bereichert. Man hat nicht nur die Zinsen der Kaution kassiert, sondern sich auch noch an meiner Einkommenssteuer gütlich getan, weil die Nachzahlung der Bezüge in einem Jahr versteuert wurde und nicht auf sieben Jahre verteilt ist. Eine Klage hat aber nur Sinn, wenn ich einzelnen Justizmitarbeitern erfolgreich Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit nachweisen kann.
Interview: Jens Rometsch